Verfasst von Elli; zuletzt aktualisiert am 20. April 2024
Es war einer der ersten schwülen Tage im Sommer, und ich war gerade dabei, mich aus meiner Depression wieder zu etwas herauszuarbeiten, was man mit den Worten „Ich-Bewusstsein“ oder „Zielgerichtetheit“ oder vielleicht auch nur „Leben“ hätte bezeichnen können.
Ich hatte mich nämlich erst vor Kurzem daran erinnert, wer ich früher einmal gewesen war; dass ich überhaupt mal jemand gewesen war, jemand mit Ideen und Plänen, und ich war festen Willens, noch heute zu dieser Person zurückzukehren, koste es, was es wolle.
Heute war der Tag, sagte ich mir. Heute würde ich zu der Version von mir zurückfinden, die ich gemocht hatte. Heute würde ich endlich die Dinge tun, die ich mir schon lange vorgenommen hatte. Ich würde die Dinge anpacken, so wie früher auch. Ich würde ein Zukunftsgefühl entwickeln.
Ich ging in der Küche umher, räumte Dinge an ihren Platz, wischte Krümel vom Küchentisch, holte meinen Laptop und setzte Kaffee auf; ich traute mir noch nicht ganz, aber ich wollte es zumindest versuchen. Ich atmete tief durch. Heute würde ich eine zukunftsfähige Version Mensch von mir wiederbeleben. Ich würde einen Artikel schreiben, diverse Dinge erledigen und am Ende des Tages stolz auf mich sein.
Doch dann kam der Anruf. „Bist du daheim?“, fragte eine Stimme, die ich gut kannte. Es war der Vater meines Freundes. „Wir haben hier einen Taubennotfall.“
In diesem Moment lösten sich alle Pläne, die ich jemals geschmiedet hatte, in Luft auf. Ich vergaß, wer ich wieder werden wollte; ich vergaß sogar, wer ich jetzt war.
Taubennotfälle gingen vor.
Ich stieg auf den Dachboden und bereitete dort den Käfig für die neue Taube vor, die bald bei uns einziehen würde und die wir (aber das wusste ich da noch nicht) Rosie nennen würden: Boden mit Papier auskleiden, Wasser in Schälchen füllen, Maiskörner, getrocknete Erbsen, Sonnenblumenkerne teils dekorativ auf dem Boden verteilen, teils in eine Schüssel geben; ein Sitzdreieck aufstellen, denn Tauben sitzen gerne ein wenig erhöht.
Keine zwei Stunden später war die Taube da.
Sie wurde in einem Pappkarton übergeben und wehrte sich kein bisschen, als wir sie von dort herausholten.
Das war zunächst das Auffälligste an ihr. Alle anderen Tauben, die wir vor ihr betreut hatten, hatten in blanker Panik mit den Flügeln geschlagen, sobald unsere Hände sich ihnen genähert hatten; Rosie blieb zusammengekauert, wo sie war: eine weiß-hellgraue Taube im Miniaturformat, mit einer länglichen Wunde am Hals und einem zugeschwollenen linken Auge. Wir wussten nicht, was ihr passiert war.
„Rosie“, fragten wir sie. „Was ist denn mit dir passiert? Hm?“
Was war eigentlich mit mir passiert?, fragte ich mich gleichzeitig. Warum hatte ich seit vielen, vielen Monaten das Gefühl, in einen zwanghaften Winterschlaf versetzt worden zu sein, als hätte nichts, was ich tat, irgendeine Auswirkung?
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Rosie warf uns einen philosophischen Blick aus ihrem einen verbliebenen perlengroßen schwarzen Auge zu und schwieg.
Ihr Herz pochte schnell und hart gegen unsere Handinnenflächen, als wir sie in den Hamsterkäfig setzten, den wir einmal auf Ebay-Kleinanzeigen gekauft hatten; die Flügel fühlten sich knochig an. Wir hatten sie nun Rosie getauft und sie wusste nichts davon.
Wir schlossen die Käfigtür. Die Metallstäbe um Rosie herum vibrierten leicht. Mein Herz sank.
Natürlich wollten wir Rosie retten, aber irgendwie fühlte es sich auch so an, als hätten wir sie soeben zu unserer Gefangenen gemacht.
Wir würden Rosie ja wieder freilassen, redete ich mir gut zu.
Rosie blieb an genau der Stelle im Käfig sitzen, an der wir sie abgesetzt hatten.
„Und jetzt?“, fragten wir. „Rosie, wie geht es dir? Friss doch ein wenig!“
Aber Rosie warf uns nur einen philosophischen Blick aus ihrem einen verbliebenen perlengroßen schwarzen Auge zu, schwieg und bewegte sich nicht. Ihr zweites Auge hatte eine ganz andere Form als das erste; so, als würde sie blinzeln oder als würde eine Gesichtshälfte weinen.
Woher kam Rosie? Wie alt war sie? Wie hatte sie sich verletzt? Was hatte sie schon alles erlebt?
Wer war ich früher gleich noch einmal gewesen?
Über mich
Ich bin Elli und habe selbst Erfahrungen mit Depressionen. Mir haben vor allem körperliche Ansätze sowie ganzheitliche Mind-Body-Verfahren geholfen – und genau darüber schreibe ich hier, immer mit Bezug auf aktuelle Forschung zum Thema. Denn Körper und Geist hängen eng zusammen. Mind to Body, Body to Mind! Hier erfährst du mehr über mich.
Wir wussten nur, dass der Vater meines Freundes sie auf seinem Firmenparkplatz gefunden hatte. Das war alles.
„Wir sollten ihre Wunde desinfizieren“, sagte mein Freund. „Das war bestimmt ein Greifvogel.“
„Sie hält den Flügel auch so komisch“, sagte ich.
„Wir sollten die ganze Taube noch mal gründlich checken“, sagte mein Freund. Er öffnete die Käfigtür wieder, langte hinein, bekam die bewegungslose Taube zu fassen.
„Oh, Rosie“, sagten wir. „Wie süß du bist!“
Die Taube schwieg und warf uns einen philosophischen Blick aus ihrem perlengroßen schwarzen Auge zu.
Wer auch immer ihr seid, sagte ihr Auge. Lasst ab von mir.
Wir streichelten ihr den Kopf.
„Ich glaube, sie hat Angst“, sagte ich. „Aber sie ist so süß! Ich muss sie streicheln!“
„Ich auch!“, sagte mein Freund und streichelte sie vorne am Hals. „Man muss sie einfach streicheln, es geht gar nicht anders!“
Die Wahrheit war, dass wir eigentlich jede Taube streicheln wollten, die wir sahen, aber die meisten Tauben das nicht mit sich machen ließen. Also eigentlich keine Taube. Außer Rosie.
Rosie konnten wir sogar im Käfig weiterstreicheln, nachdem wir sie in der Luft gedreht und gewendet hatten und festgestellt hatten, dass wir ihre Flügel ganz ausklappen konnten und nichts gebrochen schien. Danach saß sie bewegungslos da, atmete schnell und schaute uns aus ihrem schwarzen Auge aus an. Ihr Gefieder war unendlich glatt; darunter konnte man die harten Knochen spüren.
„Ich glaube, sie hat Angst“, sagte ich erneut.
„Ja, klar, aber wenn wir schon einmal eine Taube streicheln können“, sagte mein Freund. Er streichelte die regungslose Taube weiter.
Wann hatte ich eigentlich angefangen, das Leben als etwas zu begreifen, das mir nur zustieß, während ich bewegungslos irgendwo verharrte? Und wieso konnte ich damit nicht wieder aufhören? Wo war eigentlich mein Zukunftsgefühl hin?
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Später kaufte ich Desinfektionsmittel in einer Sprühflasche und stellte fest, dass ich die ganze Taube problemlos in einer Hand halten konnte, ich drückte ihr die Flügel so an den Körper, dass sie nicht damit flattern konnte, selbst wenn sie es versucht hätte; ich wusste nicht, was leichter in meinen Händen war, die Taube oder die Sprühflasche mit Desinfektionsmittel. Als ich zum ersten Stoß ansetzte, zuckte die Taube zusammen; auch bei den zweiten und dritten Sprühstößen, die ich sicherheitshalber durchführte.
Lasst von mir ab, wer auch immer ihr seid!
Als ich sie wieder in den Käfig setzte, machte sie einen schnellen Schritt in Richtung Wassernapf und stellte sich mit den Füßen hinein.
Am ersten Tag fraß Rosie nicht viel. Ich saß ihr gegenüber, beobachtete sie ein wenig und war so langsam und versonnen wie immer in der letzten Zeit. Ich dachte an keine der Aufgaben, die ich eigentlich hatte erledigen wollte; oder erledigen hätte müssen; dafür telefonierte ich Tierärzte ab, von denen sich keiner für Tauben zuständig sah, und hinterließ eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter der Taubenhilfe.
Am zweiten Tag war ihr Auge schon ein wenig abgeschwollen.
Ich hatte keinen einzigen Punkt von der Liste erledigt, die ich mir am Tag zuvor zurechtgelegt hatte. Genau genommen war ich wieder in die gedankliche Schläfrigkeit gerutscht, die ich mittlerweile schon so gewohnt war. Darin zählte nichts, es zählten keine Taten, es konnten keine Taten durchgeführt werden, wir warteten in einer Zeitschleife.
„Liebste Rosie“, sagten wir. „Das sieht doch schon gut aus, oder?“ Rosie war kurz davor zu unserer Lieblingstaube zu werden, denn sie war die einzige, die wir jemals hatten streicheln können. Es schien ihr zwar nicht sonderlich zu gefallen, denn ihr kleiner Brustkorb hob und senkte sich dann immer panisch, aber uns gefiel es; wir wollten so gerne eine zahme Taube.
Wer war ich gleich noch einmal? War ich zahm? Verzweifelt? War ich gerade überhaupt da?
Ich hätte einen scheuen Blick, sagte mein Freund mir oft, und immer, wenn ich das hörte, musste ich daran denken, dass meine Mutter auch diesen scheuen Blick hatte. Sie hatte ihn schon ihr Leben lang gehabt, aber ich hatte den Blick nicht zuordnen können. Lass von mir ab, sagte der Blick manchmal. Wer auch immer ihr seid, lasst ab!
Der Gedanke an meine Mutter schaffte eine gewisse Kontinuität in mir, der mich erst beruhigte, dann beunruhigte. Konnte es sein, dass ich meine Vergangenheit verloren hatte, und nur noch im Jetzt stattfand, ohne Vorgeschichte, ohne Zukunft, ohne irgendetwas?
Rosie fand jetzt statt. Rosie war zahm, auch wenn sie scheu war. Wir konnten den Futterbehälter ohne Probleme aus dem Käfig herausholen und neu füllen, Rosie hatte keine Angst vor unseren Händen, wenn sie an ihr vorbei griffen.
Die Taubenhilfe hatte sich gemeldet. Wir sollten Rosie bitte nicht wieder freilassen, auch wenn es ihr gut zu gehen schien. Draußen könne sie nicht überleben. Rosie war eine Zuchttaube, ein Haus-, kein Wildtier; sie war offenbar ausgesetzt worden. Die Taubenhilfe bat darum, dass wir Rosie noch ein wenig Herberge gewährten, sie würden dann in ein paar Tagen bei uns vorbeikommen, Rosie holen und in einen betreuten Taubenschlag bringen.
Rosie wurde zu unserer Lieblingstaube. Die einzige Taube, die wir streicheln konnten.
Am dritten Tag plusterte sie sich auf, gurrte laut und stakste im Käfig hin und her. Es sollte uns signalisieren: Ich bin stark, lasst von mir ab, wer auch immer ihr seid!
„Super, Rosie!“, riefen wir. Auch wenn wir sehr, sehr gerne weiterhin über ihre unendlich weichen Federn gestrichen hätten.
Manchmal konnte mein Freund der Versuchung dennoch nicht widerstehen, sie zu streicheln. Er öffnete die Käfigtür und näherte sich der Taube langsam mit der Hand. Die Taube beobachtete uns aufmerksam. Als wir nur noch 5 Zentimeter von ihr entfernt waren, rückte sie ein Stück weg.
Dann, in einer plötzlichen Bewegung, schlug sie die Hand meines Freundes mit dem Flügel. Das Geräusch war dasselbe wie Geschenkverpacken, wenn man mit der Schere am Rand der bunten Geschenkbänder entlangfuhr, um sie zu kringeln.
Mein Freund zuckte zurück.
„Das hat richtig wehgetan!“, sagte er begeistert. „Die kann ja richtig fest schlagen!“
Der Tag, an dem Rosie begann sich zu wehren, war auch der Tag, an dem ihre Wunde sich wieder geschlossen hatte. Bald würden neue Federn darüberwachsen, in der gleichen Farbe wie vorher.
Ich hatte in der Zwischenzeit meine Versprechen an mich selbst erneuert – wieder so produktiv zu werden wie früher, oder zumindest ein bisschen produktiver, wieder irgendetwas zu machen, einfach nur irgendetwas.
Schließlich tat ich Dinge, ja, das tat ich. Aber ich tat sie ohne Überzeugung und ohne Schwung. Die Zukunft schien mir fern und ungreifbar.
Wer auch immer ihr seid, lasst von mir ab!
Rosie hatte mich in ihrem Heilungsweg überholt.
Ihre Federn schillerten hellgrün auf weiß; die frühere Wunde war kaum noch zu erkennen. Ich für meinen Teil wartete weiter, auf den Tag, an dem die Farben und der Schwung zurück in mein Leben kehren würde.
Die Taube in ihrer Ganzheit strahlte eine gewisse wehrhafte Energie aus, die ich mir selbst für mich wünschte: zwei schwarze, perlengroße Augen mit exakt der gleichen Form; dem Mut, uns zu drohen; vermutlich auch Fernweh, auch wenn ich davon nichts sah, ich spürte es am Luftzug, den sie machte, wenn sie mit dem Flügel nach uns schlug.
Rosie hatte Fernweh.
Ich hatte Heimweh nach mir selbst.
Es war einer der ersten schwülen Tage im Sommer.
Danke, dass du das alles mit uns teilst.
Ich freue mich auf dein Buch- was für ein Glück (und Können!!!), dass dich ein Verlag gefunden hat.
Da warte ich doch gerne noch.
Liebe Grüße
Mena
Liebe Mena, hab vielen lieben Dank für deinen Kommentar und für’s Mitwarten und Mitfreuen!!! Liebe Grüße, Elli